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Du 817 | Juni 2011

Wer hat Angst vor Ai Weiwei?

 
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ISBN:
978-3-905931-09-9
Preis:
CHF 20.- / EUR 15.-
Status:
nicht verfügbar


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I.

Hintergrund - Frank Sieren
Ende des Dialogs?

Hintergrund - Tilman Spengler im Gespräch mit Joachim Maier
«Von Künstlern und Intellektuellen droht diesem Regime keine Gefahr»
Der Sinologe und Schriftsteller Tilman Spengler über die Ausstellung Die Kunst der Aufklärung in Peking, das ihm verweigerte Visum und die Verhaftung Ai Weiweis.

Der Künstler - Max Wechsler
Der Anarchist im Porzellanladen

Fotografie - Urs Stahel
Ai Weiweis fotografische Kommunikation
Mit Auftritten als bildender Künstler und Dissident wurde Ai Weiwei weltweit bekannt. Als Fotograf, der seinen Alltag minutiös dokumentiert, ist er noch zu entdecken.

Blog, Twitter, Interviews - Ai Weiwei (Bearbeitung-Joachim Maier)

Ai Weiweis soziale Plastik
Ai Weiweis unermüdliche Kommunikation - im Blog, in den Twitter-Einträgen und vielen Interviews - ist ein wesentliches Element seiner gesellschaftsverändernden Kunst.

Ausstellung - Stefan Banz
Das Aufkeimen der Masse
Nach ihrer Ausstellung in der Londoner Tate Modern zeigt Ai Weiwei eine überarbeitete Version seiner Sonnenblumenkerne in Cully - im kleinsten Museum der Welt.

Petson - Uli Sigg und Till Veiten im Gespräch mit Isabel Zürcher
«In Asien ist es sehr akzeptabel, dass viele Dinge nicht lösbar sind»
Uli Sigg und Till Veiten arbeiteten gemeinsam mit Ai Weiwei an seiner Ausstellung und seinem Master Talk in Luzern. Statt wie geplant mit ihm, sprechen sie nun über ihn.

Person - Chris Dercon
Die Weigerung, zwischen Kunst und Leben einen Unterschied zu machen
Chris Dercon, der Leiter der Tate Modern, schrieb sofort «Release Ai Weiwei» an sein Museum und forderte dazu auf, China direkt zu fragen: «Wo ist Ai Weiwei?»

Kunst und Macht I - Santiago Sietta im Gespräch mit Brigitte Ulmer
«Wir brauchen keinen Messias der Kunst»
Santiago Sierra empfiehlt dem Westen, sich seiner eigenen Barbarei zu stellen, wenn er China eine Lektion erteilen will.

Kunst und Macht II - Harun Farocki im Gespräch mit Bettina Spoerri
«Der Macht in China ist die Kunst egal»
Der Filmemacher und Autor Harun Farocki zählt zu den profiliertesten Vertretern der politischen Kunst. Auch wenn er mit dem Begriff gar nichts anfangen kann.

Kunst und Macht III -Thomas Hirschhorn im Gespräch mit Brigitte Ulmer
«Kunst ist nie neutral»
Thomas Hirschhorns Material sind politische Fragen. Für den Vertreter der Schweiz an der Biennale Venedig bedeutet die Verhaftung Ai Weiweis einen Rückschlag. Mehrfach.

II.

Literatur- Bodo Kirchhoff im Gespräch mit Thomas David
«Jedes Buch ist ein besserer Entwurf meiner selbst»

Literatur - Bodo Kirchhoff
Das alte Lied
Zwei Paare, getrennt durch ganze Epochen und doch vereint in einer Welt des Sehnens: ein exklusiver Romanauszug.

Fotografie - Jens Schwatz (Bilder), Jan Biener (Text)
Die innere Unsicherheit
Das Leben in Beirut kennt nur eine Gewissheit: Alles kann jeden Moment wieder ganz anders sein.

Klassik - Thomas Hengelbtock im Gespräch mit Chtistian Berzins
«Wir müssen uns erinnern, dass wir Künstler sind»
Thomas Hengelbrock ist einer der aussergewöhnlichsten Musiker unserer Tage. Nun debütiert er in Bayreuth.

Enabler (III) - Gottfried Knapp
Wer sammeln will, soll teilen: Reinhold Würth
Seine Kunstsammlung hat Horizonte verschoben. Wie der Unternehmer Reinhold Würth für Kulturbewusstsein sorgt.

Ausstellung - Guido Magnaguagno
Niki de Saint Phalle: Spiel mit mir
Das enorme Schaffen einer bedeutenden Künstlerin.

Kooperation - Konrad Tobler
Wenn Künstler als «Schmarotzer» abgestempelt sind
Die Nonkonformisten aus der Sowjetunion passen in kein Schema. Als «Schmarotzer» sassen sie im Gefängnis.

III.

Raffinierter leben mit Ludwig Hasler

Ausstellungstipps von Juri Steiner

Fotobuch
Daniele Muscionico über Roman Bezjak

Zwischenruf
This Brunner über Hirschhorns Briefmarke

Stefan Zweifels Literaturtipps

Filmtipp
Nicole Hess über «Into Eternity»

Theatertipp
Christine Dössel über «Gotham City»

Jazztipp
Tilman Urbach über Mary Halvorson/Jessica Pavone

Klassik- und Poptipps
von Christian Berzins und Albert Kuhn

Bundesamt für Kultur
Gespräch mit Nika Spalinger

Opernhaus Zürich
Peter Konwitschny und Sibylle Berg

Migros-Kulturprozent
Peter Sunde über The Pirate Bay

  Du 817 | Juni 2011 | Wer hat Angst vor Ai Weiwei?

Wer hat Angst vor Ai Weiwei?

Aufklärung im 21. Jahrhundert

Von Stefan Kaiser

Spätestens seit seiner Verhaftung am 3. April 2011 ist Ai Weiwei zur Symbolfigur geworden. Im Westen ist der mit Abstand bekannteste Künstler der Volksrepublik China sowohl ein Medienereignis wie eine Projektionsfläche, sein Handeln wird mit den verschiedensten Bedeutungen aufgeladen; auch unser Umgang mit Diktaturen auf dem Gebiet der Kultur steht wieder zur Debatte. Dabei fällt auf, dass die Stellungnahmen erstaunlich wenig über den Künstler aus¬ sagen, der sein eigenes Leben so radikal zum Träger einer politischen Botschaft gemacht hat. Sie widerspiegeln viel eher die Absichten des jeweiligen Absenders.
Die weltweiten Solidaritätsbekundungen für Ai Weiwei wurden in der Schweiz und in Deutschland besonders aufmerksam verfolgt. Hierzulande hat man ihn durch Uli Sigg sozusagen entdeckt, und man begleitet ihn seit vielen Jahren. In Deutschland wurde Ai Weiwei nach der Ausstellung So Sorry und seiner Hirnoperation 2009 in München, die nach in Sichuan erlittenen Polizeiprügeln lebenswichtig war (eine Botschaft, die Ai noch im Spitalbett zum Teil seines Gesamtkunstwerks machte), zum Vorzeige-Dissidenten und Hoffnungsträger für die Freiheit. Zudem wollte er nach dem Abriss seines Ateliers in Shanghai 2011 neue Arbeitsräume in Berlin eröffnen. Das schafft Nähe. Es verführt aber auch zu einer romantischen Auslegung der Sachverhalte: Weshalb berührt das Schicksal Ai Weiweis so viel mehr Menschen als zum Beispiel die elfjährige Haftstrafe des Menschenrechtsaktivisten und Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, der in einem Gefängnis im Nordos¬ ten Chinas von der Umwelt abgeschnitten ist in der boomenden Region Liaoning, wo ein deutscher Automobilkonzern die im Land so begehrten Symbole des Fortschritts koproduziert?
Als wir Ai Weiwei zum Vorgespräch für diese Du-Ausgabe getroffen haben, waren wir uns rasch einig, dass wir das Heft nicht allein über ihn produzieren wollen, sondern über das Thema «Kunst und Macht». Ai wollte weitere Dissidenten integrieren und als Kurator mitwirken. Seine Verhaftung hat diese Idee zunichtegemacht. In der Folge haben wir das geplante Heft umgestellt und fokussie¬ ren stärker auf den Künstler und seine vielschichtig vernetzte Arbeit, die nun im Fotomuseum Winterthur, im Kunsthaus Bregenz, in der Kunsthalle Marcel Duchamp in Cully und im Kunstmuseum Luzern ausgestellt ist. Ai Weiweis Idee, andere politische Künstler zu integrieren, nehmen wir in Gesprächen mit Santiago Sierra, Harun Farocki und Thomas Hirschhorn auf. Zudem geben der in Peking lebende China-Experte Frank Sieren und der von China für seine Liu-Xiaobo-Laudatio abgestrafte Sinologe und Schriftsteller Tilman Spengler Auskunft über die Hintergründe im Land und die Diskussion im Westen. Denn leider spiegelt das Schicksal Ai Weiweis noch immer einen Normalzustand in der Einparteiendiktatur: «Das ist heute die Realität in China», sagte Ai Tage vor seiner Verhaftung, «Schrifsteller, Künstler und Blogger werden ins Gefängnis gesteckt, wenn sie über Demokratie und Reformen nachdenken.» In den Monaten zuvor verschwanden bereits Dutzende von kritischen Köpfen, und die Arbeitsbedingungen für Künstler und ausländische Journalisten wurden eingeschränkt.
In Deutschland wirft diese Entwicklung ein kritisches Licht auf die mit grossem Aufwand produzierte Ausstellung Die Kunst der Aufklärung und das Begleitprogramm Aufklärung im Dialog, die beide Anfang April 2011 in Anwesenheit von Aussenminister Guido Westerwelle im Pekinger Nationalmuseum eröffnet wurden. Dabei erinnern die jetzt vorgetragenen Argumente an die Diskussion im Herbst 2009. Damals war China das Gastland der Frankfurter Buchmesse, und es gab ebenfalls Meinungsverschiedenheiten etwa über die Beteiligung von Regimekritikern wie Dai Qing und Bei Ling im Begleitprogramm. Nach der in München ent¬ deckten Kopfverletzung von Ai Weiwei fragte man sich: «War es richtig, China einzuladen?» Heute lautet die Frage nach Ais Verhaf¬ tung: «Soll man die deutsche Ausstellung in Peking abbrechen?» Allerdings wird die Debatte mit härteren Worten geführt. Ai reiste 2009 nicht mehr wie geplant nach Frankfurt. Zur Eröffnung in Peking war er schon gar nicht erst zugelassen. Wer bei den Feierlichkeiten im symbolträchtigen, vom Hamburger Architekten Meinhard von Gerkan «umgebauten und erweiterten» (sprich: neugebauten) Nationalmuseum am Tian'anmen- Platz dabei war, bekam einen guten Eindruck von der Verflechtung der unterschiedlichsten Interessen im Vorfeld der Aus¬ stellung. Diese wurden aber von der vorgetragenen Rhetorik des «Kulturdialogs» perfekt überdeckt.
«Gegenseitige Offenheit», «echte Partnerschaft», «Begegnung auf Augenhöhe» selten waren die schönen Worte in Pekingso intensiv zu hören wie in diesen Tagen vor Ai Weiweis Verhaftung. Oft waren es deutsche Offizielle, die sie im Munde führten. Sie waren angereist zur Eröffnung des Nationalmuseums und der ersten Gastausstellung Die Kunst der Aufklärung. Stolz darüber, dass sie es waren, die den Zuschlag erhalten haben, und nicht die anderen Mitbewerber im globalisierten Museumsbetrieb, verbeugte man sich auf den Podien und sprach selbstbewusst vom «grossen Vertrauen», das die Vertreter der beteiligten drei deutschen Museen im Hintergrund der Ausstellung «aufgebaut» hätten. Ein Vertrauen, das jetzt «nach Europa zurückgespiegelt werden muss», um die in unsern Medien verbreiteten, die immer nur schwarz-weiss gemalten Vorurteile gegenüber China endlich zu revidieren. Die chinesische Seite spielte den Ball auf Augenhöhe zurück. Ein «Meilenstein im Dialog» sei erreicht worden, sagte etwa Cai Wu, der Minister für Kultur der Volksrepublik China. Er unterstrich die Bedeutung der Aufklärung für die allgemeine Entwicklung der Menschheit wie auch für die Tradition seines Landes im Besonderen und hob dabei für China wichtige Begriffe wie «Integration», «Offenheit» und «Toleranz» hervor. Der Direktor des Nationalmuseums, Lü Zhangshen, unterstrich, dass bei der Aufklärung der chinesischen Bevölkerung «zur weiteren Vervollkommnung der Menschheit» der Institution Museum eine wichtige Rolle zukomme: «Laotse sagt: Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt. Das Museum ist ein solcher.» So weit war man sich einig. Die Beobachter im Saal erstaunte, wie offensiv China sein staatliches Handeln mit der Gedankenwelt der Aufklärung in Einklang bringen kann. Dass man die deutsche Ausstellung abseits des Besucherstroms im zweiten Stock platziert hat, bringt aber eben auch eine Form der Wertschätzung des Themas zum Ausdruck. Aufklärung heisse, «Meinungsverschiedenheiten im Dialog zu lösen», betonte die deutsche Seite. Die Chinesen wiederholten: Also mussten aufgeklärte Menschen «eben nicht alle gleicher Meinung sein». Eine Groteske. Expliziter trat Guido Westerwelle auf. «Wir wollen einen Diskussionsprozess mit der breiten Öffentlichkeit anstossen», sagte er in zwei gut geschriebenen Reden, deren politische Korrektheit sich mit dem Leuchtstift verfolgen liess. Viele wichtige Themen waren enthalten, auch der selbstkritische Hinweis auf die «dunkelste Zeit der deutschen Geschichte», die Grauel des Nazi-Regimes, fehlte nicht. Westerwelle zählte auf, welche Aspekte der Situation in China die Menschen in Deutschland «bei allem Respekt» kritisch ansähen und dass sein Land China auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit «weiter unterstützen» werde. In der Diskussion wurde auch die chinesische Seite expli¬ ziter. Direktor Lü erwähnte die lange Liste international führender Museen, die bei ihm Schlange stehen: «Alle sind ungeduldig» ungeduldig, ebenfalls eine Ausstellung in Peking realisieren zu kön¬ nen. Mit einem Lächeln liess er durchscheinen, worauf es dabei ankomme auf die Finanzierung. Die anwesenden Medienvertreter konnten das Thema nicht vertiefen, die Diskussion wurde abgebrochen. Tags zuvor verliess Lü das Podium, als er auf die Verweigerung des Visums an Tilman Spengler angesprochen wurde.China wird die Welt des 21. Jahrhunderts prägen. Chinesen werden nach Europa reisen und unsere Museen besuchen, sie werden ihren Nachholbedarf im Konsum befriedigen und auch von Joint-Venture- Unternehmen westliche Autos made in China kaufen. Kultur, Politik und Wirtschaft können jedoch beim «grossen Brückenschlag zwischen den Zivilgesellschaften» nicht getrennt werden, geschweige denn, dass man der Kultur allein die moralische Bürde auftragen kann, universelle Werte des Westens in einer asiatischen Diktatur zu etablieren. Der Kontrast zwischen dem Ausstellungsthema und der politisch-gesellschaftlichen Realität vor Ort machte diesen Einschätzungsfehler besonders deutlich.
Gerne hätte man auch eine offizielle Stimme der Wirtschaft, die die Aufklärungsausstellung und die Kommunikation um sie herum stark unterstützt hat, gehört etwa zur Verhaftung Ai Weiweis und anderer «Vaterlandsverräter» (Wortlaut der Staatsblogger), die den Gedanken der Aufklärung in China verbreiten möchten. Aber vielleicht ist auch diese Forderung naiv. Geschäft ist Geschäft. Guido Westerwelle sagte es klar: «Es gab in Deutschland keinen Fall der Mauer. Die Mauer wurde von den Menschen eingerissen.»
In China steht die Mauer noch. Oben angekommen begrüsst den Besucher als Erstes ein Stück Fels mit dem Logo der Firma Henkel und einer (deutschen) Inschrift zur Restaurierung des Schutzwalls, der der chinesischen Führung noch immer als Symbol für den gewünschten Stillstand im Land dient. Für sein Projekt Flrosion - Landschaft in Bewegung untersuchte der Schweizer Künstler Hans Danuser, wie diese Mauer langsam zerfällt. Dabei wurde er von einem Chinesen begleitet, der zwanzig Jahre lang im Gefängnis sass ohne zu wissen, weshalb er eingesperrt worden war, und ohne dass er eine Begründung bekam, weshalb er wieder entlassen wurde. Mit solch kafkaesken Situationen muss der Wes¬ ten umgehen lernen. Stattdessen einigt man sich auf die Formel «Jede Form von Dialog ist wichtig» und blendet das Unheimliche aus, das auf der jeweils anderen Ebene stattfindet.
Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo wurde eingesperrt, weil er eine Denkschrift unterzeichnet hatte, die den Satz enthält: «Wo die Freiheit nicht blüht, kann von moderner Zivilisation keine Rede sein.» Wir sollten trotz aller Euphorie über die schönen Geschäfte und den damit einhergehenden «Wandel durch Annäherung» nicht vergessen: Am Anfang der Moderne stand bei uns das intellektuelle Programm der Aufklärung. Nur wenn ihre Werte auf allen Ebenen der Zusammenarbeit offen vertreten und eingefordert werden, haben sie eine Chance, sich auch in China zu entfalten.

P.S. Für seine Du-Reportage über Tomi Ungerer (Du 812, Dezem¬ ber 2010) erhielt der belgische Fotograf Stephan Vanfleteren den diesjährigen Henri-Nannen-Preis (Kategorie Fotoreportage). Wir freuen uns mit ihm über die schöne Anerkennung! Gleich zwei Preise gab es für Du vom Art Directors Club Deutschland: Für den gesamten Du-Jahrgang 2010 bekamen wir eine Auszeichnung, und Stephan Vanfleteren erhielt Bronze für seine Einzelleistung zu Tomi Ungerer. Auch darüber freuen wir uns sehr.